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Meine amerikanischen Jahre

Das war etwas ganz anderes


Ich war gerade sechzehn, als meine verwitwete Mutter sich den Spleen in den Kopf setzte, mit allen vier Kindern nach Amerika auszuwandern, wegen der Schule Wir waren ein bisschen lässig und schon damals ziemlich verkracht, mein Bruder und ich, mit der Schule - und überhaupt, das sah nicht gerade nach Matura aus! Ich war gerade sechzehn, als meine verwitwete Mutter sich den Spleen in den Kopf setzte, mit allen vier Kindern nach Amerika auszuwandern, wegen der Schule.


Wir waren ein bisschen lässig und schon damals ziemlich verkracht, mein Bruder und ich, mit der Schule - und überhaupt, das sah nicht gerade nach Matura aus! Ich war gerade sechzehn, als meine verwitwete Mutter sich den Spleen in den Kopf setzte, mit allen vier Kindern nach Amerika auszuwandern, wegen der Schule. Wir flogen mit einer Super Constellation, die Maschine legte in Shannon (Irland) und Gander (Kanada) einen Zwischenstopp ein und wurde aufgetankt. Aus den Motoren an den Tragflächen schlugen nachts kleine blaue Flammen, wir hatten das Gefühl abzustürzen. Auf der Einwanderer-Insel Ellis Island verstand ich meinen Namen nicht, als ich aufgerufen wurde. Ich war jetzt „Wuulfgäng Rôôsssß" und meine Fingerabdrücke musste ich auch noch hergeben.


Im hügeligen Virginia der Appalachian Mountains, an der Grenze zu Tennessee, schenkten die Nachbarn uns Möbel, einen Fernseher und überließen uns einen blauen Ford für eine Handvoll Dollar, nur hatte niemand von uns einen Führerschein. Potluck-Dinner, Barbecues, wir waren überall eingeladen, man ließ uns mitspielen bei Soft-Ball und Touch-Football, die Gastfreundschaft des amerikanischen Südens, wenn man ein Weißer war. Nicht, dass es uns gestört hätte, willkommen zu sein.


Wir lebten auf dem Land, man schloss sein Haus nicht ab und ließ den Autoschlüssel stecken, und die Autofahrer grüßten jeden Fußgänger lässig mit der Hand, ob sie ihn kannten oder nicht. Die Lokalzeitung The Bristol Herald berichtete, dass Frau Purifoy mit sechs Freundinnen, die namentlich genannt waren, ein Kochrezept aus China ausprobiert hatte. In der Kirche am Sonntag wogte ein Meer von Damenhüten, es wurde gesungen, als wäre der Harlem Gospel Choir zu Besuch, dabei saßen nur Weiße in den feierlich-pathetischen Gottesdiensten. Mein Freund Ricky gab mir sein zweites Kleinkalibergewehr und wir schossen auf Blechbüchsen und fliegende Vögel, die wir nicht trafen. Wir kamen uns lässig vor. Nach dem Basketball in der Turnhalle stürzten wir zur Coke-machine, für die 25-Centmünze bekamen wir einen Riesenbecher mit eiskalter Cola und shredded ice, aaah!


Ein halbes Jahr auf der Highschool. Beim ersten Basketballmatch gegen Chilhowie war alles auf den Beinen, die Cheerleader heizten der Halle ein, die Burschen hatten das Auto der Eltern dabei und fuhren nach dem Spiel ins Autokino, ein Mädchen auf dem Beifahrersitz.


Nachdem ich vor der versammelten Schülerschaft eine kurze Rede über Deutschland gehalten hatte, bekam ich einen Brief von Emma-Lou, sie sei fünfzehn Jahre alt und hätte schwarzes Haar und blaue Augen. Und ich habe nicht geantwortet, das war nicht gerade die feine Art. Der Direktor der Highschool, ein Veteran des Zweiten Weltkriegs, hatte in Deutschland gekämpft und fragte, ob dieses Land wohl jemals an der Seite Amerikas für die Freiheit kämpfen würde. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich war damals Pazifist und der Meinung, dass kein Deutscher je wieder eine Waffe in die Hand nehmen sollte.


Mit dem Vater meines Freundes Ricky fuhr ich auf der Wache vor, ein Polizist stieg ins Auto, einmal um den Block und parallel einparken, zwei Dollar: Das war mein Führerschein. Der Ford, den man uns halb geschenkt hatte, wartete schon in der Garage, die Kotflügel inzwischen verbeult, da mein älterer Bruder und ich immer wieder probiert hatten, ihn raus- und reinzufahren. Wir gondelten stundenlang über nicht enden wollende Schotterwege ins Hinterland und sahen die Holzhäuser der Schwarzen, die weiße Farbe von den morschen Brettern abgeblättert, die Familie mit den arbeitslosen Männern auf der Veranda, im Garten verrosteten drei oder vier Autos. In meiner Zeit im ländlichen Virginia habe ich nicht mit einem gleichaltrigen Schwarzen zu tun gehabt, weder in der Schule, noch im College, noch in der Freizeit.


JFK strahlte uns entgegen


Im Sommer setzte sich die ganze Familie ins Auto: Go West! Die Route 66 bis nach Kalifornien, wie kann ein Land nur so groß sein! 5000 Meilen in siebzehn Tagen. In Las Vegas trat Elvis auf, ich schmuggelte mich mit Sonnenbrille ins Hotel, wurde erwischt, bevor ich ihn hören konnte, sah ihn aber mit seiner Gitarre auf die Bühne kommen. An den Spieltischen war der Silberdollar die Währung, wir nahmen uns ein Dutzend mit, die habe ich heute noch. Im Grand Canyon durchsuchte ein Bär unsere Mülltonne und klappte anschließend den Deckel wieder zu.


Emory and Henry, das methodistische College, das ich dann besuchte, nahm keine schwarzen Studenten auf, es gab auch keine jüdischen. Der einarmige Hallenwart im Sportzentrum und die Hausdame des College-Präsidenten waren die beiden einzigen Schwarzen auf dem Campus und im Ort. Der Theologie-Professor Paul Hollenbach verlangte die Aufnahme schwarzer Studenten und wurde deshalb 1964 entlassen. Den Studenten und Professoren war der Alkohol verboten, nicht, dass man sich daran hielt, die Dormitories der Studentinnen waren von Dorm-Mamas bewacht, da schaffte es kein Boyfriend mit aufs Zimmer, und wer mit einer Freundin außerhalb des Campus unverheiratet zur Miete wohnte, wurde diskret gebeten, das College zu verlassen.


Mein Physikprofessor hatte im Atomforschungszentrum Oak Ridge, Tennessee aufgehört, weil er es nicht mehr vertreten konnte, an militärischen Projekten mitzuwirken. Das Englischdepartment war das Glanzstück. Kreative Professoren, die Theaterstücke schrieben oder Dichter waren, aber auch spleenige, wie die alte Jungfer Mrs. B.: I'm still a virgin, but I won't die a virgin. Meinem Anglistikprofessor Daniel Leidig verdanke ich Begegnungen mit der Lyrik von John Donne und Emily Dickinson, Amerikas scheuester Dichterin. Er ebnete mir den Weg zu Ernest Hemingway und zwang mich, eine Short Story zu schreiben, bei der einen ist es nicht geblieben.


An der trostlosen Tankstelle des Ortes spielten die Professoren für Mathematik und Chemie nachmittags stundenlang an der Pinball-Maschine, es war ihnen egal, ob Studenten sie dabei beobachteten oder sich dazugesellten. Ehemalige, die es als Physiker bis zur NASA schafften, behaupteten später einigermaßen glaubwürdig, gerade die beiden seien inspirierende Lehrer gewesen. Viele Professoren saßen am Nachmittag in der Mensa und diskutierten. Das College war noch eine „Publish or Perish"-freie Zone. Du willst Physik als Hauptfach wählen? Why not! Let's give it a try. In Mathematik gab es keine Aufgaben, we had to solve problems, das war etwas ganz anderes.


Und das College hatte eine eigene Football-Mannschaft, bezahlte ein Riesen-Geld für das Trainerteam und kaufte die Spieler mit Stipendien ein. Trotzdem zogen wir immer wieder den Kürzeren gegen „William and Mary". Die Footballer mit ihren protzigen Collegejacken waren im Kurs beliebt, ihre schlechten Noten senkten den Durchschnitt und die Klausuren had to be curved, sodass wir selbst auf bessere Noten kamen. Im eigenen Footballstadion, wir hatten sogar eine eigene Footballhymne, die wir im Stehen, Hand aufs Herz, mit Unterstützung der College-Band vortrugen, konnte man beobachten, wie sich hoch respektierte Professoren bei Schiedsrichterentscheidungen danebenbenahmen.


Unerfreuliches passierte auch. Einem Professor goss man Zucker in den Tank seines Autos, er musste einen neuen Motor kaufen. Und nach einer heimlichen Party sprang ein Student im Alkoholrausch kopfüber in den Ententeich und sah im Dunkeln einen Stein nicht, er hat überlebt, sitzt aber heute noch im Rollstuhl.


In unserem geschenkten Kleiderschrank war innen ein Wahlplakat angebracht, jedes Mal, wenn wir den Schrank öffneten, strahlte uns John F. Kennedy entgegen. Als er erschossen wurde, verbrachten wir die Tage vor dem Fernseher. Wie der kleine John am geflaggten Sarg des Vaters salutierte, that broke our heart.


Mit Paul Hollenbach, dem entlassenen Professor, kehrte ich nach dreißig Jahren auf den Campus zurück. „Sie haben jetzt schwarze Studenten, aber alle Dozenten sind weiß", sagte er. Wie hatte ich vergessen können, wie unglaublich sanft sich die Hügel dahinwälzten. Die vertrauten Landwege in die Highlands, sie waren nun asphaltiert, überall nett hergerichtete Häuser, keine Schwarzen mehr, sie waren in die großen Städte gezogen. In der Highschool graduierte eine schwarze Schülerin, immerhin war der Stellvertreter des Schuldirektors ein Afroamerikaner.


Die Schule besaß nun eigene Autos und bot das Schulfach Driving Education mit Führerscheinprüfung an. Mein Freund Ricky wurde Lehrer in Tennessee und musste unbotmäßige Schüler körperlich bestrafen, da wurde er lieber Pfarrer, seinen Namen fand ich kürzlich in einer Unterschriftenliste gegen homosexuelle Geistliche in der Methodistischen Kirche. Sein Bruder fühlt sich heute von der amerikanischen Regierung bedroht, weil sie das amerikanische Volk entwaffnen wolle, dabei sei der Besitz der Waffe ein amerikanisches Verfassungsrecht, mit dem sich der Bürger vor seiner eigenen Regierung schützen könne.


Nach zwei Jahren in den USA bin ich wieder ausgewandert, um in Deutschland zu studieren, mein Bruder auch, auch die anderen Geschwister schafften die Matura. Mein Amerikaaufenthalt hinterließ auch musikalische Verwerfungen. Nicht nur Jazz. Wir saßen vor dem Fernseher und sahen die Ed Sullivan Show, vier Pilzköpfe traten mit Musikinstrumenten auf, Mädchen kreischten und wurden reihenweise ohnmächtig, so etwas hatte man noch nie gesehen, Ed Sullivan grinste, es war seine Show, und sie schien ihm Spaß zu machen. So entdeckte Amerika die Beatles und ich war dabei. Und Nashville war nur 500 Kilometer entfernt, meine beharrliche Liebe zur Country Music sorgt in meiner Umgebung manchmal für Irritationen, erst mit den American Recordings von Johnny Cash konnte ich punkten, endlich.


Wolfgang Martin Roth

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