29. Mai 2023 Der Ring aus Beton: Wolfgang Martin Roths Roman über einen Siebenbürger Sachsen, der Vater und Theologe wurde
Im Literaturhaus Berlin fand am 9. Mai eine Lesung mit dem Schriftsteller und Psychotherapeuten Wolfgang Martin Roth statt. Im Gespräch mit der Journalistin und Schriftstellerin Elke Schmitter stellte er seinen jüngst im Wiener Löcker Verlag erschienenen, autobiografisch gefärbten Familienroman „Die Schuhe der Väter“ vor. Im Mittelpunkt des Romans steht ein siebenbürgisch-sächsischer Familienvater, dem während des Zweiten Weltkriegs mit einer zweiteiligen umfangreichen Arbeit über die Reformation in Siebenbürgen die Promotion und Habilitation in Göttingen gelang und der dort bis zu seinem frühen Tod als Theologieprofessor tätig war. Roths Annäherung ans Familiengeschehen und die Verirrungen des Vaters in der NS-Zeit sind psychologisch und historisch fundiert. Ingeborg Szöllösi nimmt in ihrer Rezension die psychologische Fährte des Buchs auf.
Wer poetische Virtuosität, philosophische oder psychologische Wahrheiten in Wolfgang Martin Roths vor Kurzem erschienenen Roman sucht, wird enttäuscht sein. Doch wer sich mit der Aufarbeitung familiärer Verstrickungen beschäftigt, der wird in Roth einen Verbündeten finden. Der 1946 in Göttingen geborene Schriftsteller, Psychotherapeut und Gruppenanalytiker geht mit seinem Ich-Erzähler Bodo der Vergangenheit seiner Familie nach und zeigt, dass es nie zu spät ist, vergangene Verwundungen aufzudecken. Selbst im Rentenalter – Bodo ist Rentner und war Oberarzt – kann mit viel Zeit und Geduld ein in der Kindheit gekränkter und verletzter Mensch Läuterung und Heilung erfahren.
Roths Buch ist ein mindestens so erschütterndes Dokument wie der Film „Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“ aus dem Jahr 2009, in dem der österreichische Regisseur Michael Haneke die brutale Erziehung von Kindern und Jugendlichen in einem protestantischen Dorf vor dem Ersten Weltkrieg thematisiert und die Frage aufwirft, ob der rohe, übergriffige, empathielose Umgang mit Heranwachsenden zum Ausbruch der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert geführt haben könnte. Selbst kleine Kinder übernehmen die rabiate Art, in der mit ihnen umgegangen wird, und quälen andere, die schwächer sind als sie.
Protestantisch, prinzipientreu und sittenstreng ist in Roths Roman Bodos Familie. Der Vater ist ein renommierter evangelischer Theologe, ein Siebenbürger Sachse, der während des Zweiten Weltkriegs mit Studium, Pfarrstelle und Promotion der Front entgeht. Die Mutter stammt mütterlicherseits aus Siegburg und widmet sich der Erziehung der vier Kinder – Franz, Bodo, Monika und Clemens. Nach dem frühen Tod des an Krebs erkrankten Vaters leidet sie unter Depressionen und überlässt die Kinder sich selbst. Die vier entwickeln sich unterschiedlich. Die Rolle des „Schlägers“ übernimmt Bodo. Mit seiner Aggression kann er bis ins Rentenalter nicht umgehen. Wut durchkreuzt seine Pläne, da der Schmerz über erlittenes Unrecht, über die erfahrene Ablehnung durch den Vater nicht zugelassen und bewusst gemacht werden kann. Wunden können nicht verheilen. Trotzdem kommt zu später Stunde – nach drei Scheidungen und einer langen Therapie, nach der Beschäftigung und Aufarbeitung seiner Familiengeschichte sowie in Begleitung geduldiger Freunde und einer empathischen neuen Freundin – die Einsicht: „Ich bin ein abgelehntes Kind (…). Mein Herz liegt in einem Ring aus Beton, ich kann nicht tief empfinden. Und wenn ich diese Gefühllosigkeit in einer Beziehung nicht mehr aushalten kann, gehe ich eben.“ Für Bodo ist es jedoch nicht zu spät – er wird „ihn zum ersten Mal spüren, den Schmerz“. Sein Elternhaus steht zwar längst nicht mehr, doch ist die Birke aus seinen Kindertagen vorhanden. Er entdeckt einen neuen Trieb an einem Ast, nimmt ihn mit und wird ihn später in seinem Garten einpflanzen. Die Geste erinnert an Luthers „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“ – und auch an Bodos gestrengen Vater, der viel über Martin Luther und über dessen Zeitgenossen, den siebenbürgischen Reformator Johannes Honterus, spricht.
Foto: I. Szöllösi
„In der kleinen Welt, in welcher Kinder leben, gibt es nichts, das so deutlich von ihnen erkannt und gefühlt wird, als Ungerechtigkeit.“ Das war die Botschaft von Charles Dickens, der in seinen Romanen gegen die Unbarmherzigkeit und Härte der Erwachsenen, gegen die gesellschaftlich geduldete Knechtung und Misshandlung von Kindern anschrieb. In Roths Buch kommen in Erziehungsfragen Hundepeitsche und Rohrstock zum Einsatz. Bodo formuliert tiefe Einsichten nüchtern: „Mit Grausamkeit kenne ich mich aus, das weiß ich heute. Ich war ihr nicht nur ausgesetzt, sondern habe auch gelernt, selber grausam zu sein.“ Sein jüngerer Bruder Clemens hat diesen ungewollten Sadismus Bodos zu spüren bekommen – dieser ist Sätzen geschuldet wie „Ich schmeiße dich an die Wand, dass nur noch ein Fettfleck von dir übrigbleibt“ und „Wenn der Junge dir [der Mutter] nicht gehorcht, breche ich ihm alle Knochen“, die zum Erziehungsrepertoire des Vaters gehören.
„Was mache ich mit diesem Vater, in dessen großem Herz kein Platz für mich war, sondern nur die siebenbürgische Härte und versteckte Grausamkeit, die sich als Erziehung zum Gehorsam tarnte?“ Auf diese Frage findet Bodo schließlich eine Antwort – und trennt sich von den viel zu großen Lederschuhen seines Vaters, die er als Kind in den Augen seines Vaters nie gut genug putzen konnte. Er verkauft sie auf einem Flohmarkt für fünf, die schwarze siebenbürgische Trachtenjacke für zehn Euro. Und die restlichen Sachen des Vaters – „einen Teil seines wissenschaftlichen Nachlasses und vor allem die umfangreiche Korrespondenz seiner Tätigkeit für die Siebenbürger Sachsen im Nachkriegsdeutschland“ – holt er aus den Plastiksäcken heraus, ordnet sie und schickt sie dem Siebenbürgen-Institut, obwohl er in seinem ersten Impuls alles vernichten wollte. Die Gewaltspirale des „Wie du mir, so ich dir! Ich zahle jedem heim, was er mir angetan hat!“ wird durchbrochen, ohne dass eine einzige psychologische Bemerkung im Buch erfolgt – und es erschwert: Die Romanhandlung an sich legt die Erkenntnisse und Entwicklungen nahe.
Horst, Bodos Kindheitsfreund, der Historiker geworden ist und Bodo bei der Aufarbeitung seiner Familiengeschichte mit historischen Recherchen hilft, gesteht: „Dein Vater war schon ein richtiger Siebenbürger. Im 17. Jahrhundert hat die Siebenbürger mal jemand als ‚Germanissimi Germani‘ bezeichnet, vielleicht gibt es wirklich so etwas wie eine spezielle siebenbürgische Härte, die hatten da unten einen wahnsinnigen Behauptungsdruck als Deutsche. Aber ich erinnere mich vor allem an die schönen Abende bei euch am Kamin, wenn vorgelesen, gebetet und gesungen wurde. Wie habe ich euch damals um dieses Familienleben beneidet!“
Peter Schellenbaum, Schweizer Theologe und Jungianer, sagte einst: Es reicht die Begegnung mit einem Menschen, der einen wahrhaftig sieht und anerkennt, um nicht verloren zu sein. Das ist für Bodo die Oma mütterlicherseits: „Ihr, der Maria-Oma, dem warmen Lichtblick meiner Kindheit, konnte ich nichts abschlagen.“ So kommt es, dass aus ihm ein Arzt wird und er sogar als Rentner einem Menschen das Leben rettet.
Ingeborg Szöllösi
Wolfgang Martin Roth: „Die Schuhe der Väter“. Löcker Verlag, Wien, 2023, 346 Seiten, 24,80 Euro, ISBN 978-3-99098-151-1.